Da sind ja eine Menge bürgerlicher Klischees (und aus diesen geboren, die antibürgerlichen) versammelt:
…Die Musik der frühen Völker, oder das, was ich davon noch hören durfte (der Gesang der Pymäen, traurigste Musik aus Chile, von Indianern, die Musik der Aborigines), ist tradiert und in einer Weise mit dem Leben verbunden, dass sie Sprache ist. Nicht gelehrt, sondern wie Sprache immer anwesend.
Aha, der »Edle Wilde«, welcher stellvertretend für uns von der Zivilisation Verderbte, noch authentisch Musik macht. Er kann sich bloß mit niemanden austauschen und wenn er das doch versucht, wird er Mittel und Wege finden müssen um auf andere Arten zu kommunizieren und das wird dann aber auch die »authentische« Musik verändern. Musik lebt halt und entwickelt sich.
Und wer Ohren hätte zu hören, der hätte die Möglichkeit (gehabt) hier in jeder Ecke Europas authentisch von Mund zu Mund weitergegebenes zu erfahren. Aber man stierte ja lieber über den Ozean und verschloß seine Ohren mit Kopfhörern.
Die Musik, im Abendland herrschaftlich gepflegt, königlich bezahlt, wurde gelehrt.
Daneben gab es immer Gebrauchsmusik, Minnegesang, Operette und Schlager, oft eine Mischung aus Tradition und Lehre.
Wird immer wieder gern als Vorwurf genommen, stimmt aber natürlich so nicht. Zum einen ist die sog. abendländische Musik nicht im luftleeren Raum entstanden - sondern hat sich auch aus »traurigen« und hoffentlich auch fröhlichen Gesängen entwickelt immer in Kreuz- und Querverbindung mit dem Musikleben drumrum und zum anderen wurde sie nicht elitär gelehrt (Musikpraxis und Musiktheorie hatten über Jahrhunderte nicht viel miteinander zu tun) sondern ganz praktisch gelebt. Man ging als junger Mensch zu einem Musiker in die Lehre und lernte Musik und das Handwerk von Grund auf.
Und gerade weil sie ihr Handwerk so perfekt beherrschten, waren sie i.d.R. gute ja häufig geniale Improvisatoren. Wer z.B. Berichte liest, wie J.S. Bach neue Orgeln getestet hat, wird unweigerlich zu dem Schluß kommen, daß Glanznummern wie der »Delta City Blues« von Brecker zu Bach"schen Zeiten an der Tagesordnung waren.
Die für mich interessanteren Musikformen entspringen der Armut. Zigeunermusik, Blues, Jazz, Soul, Gospel, Rock, Roll und Rap sind kreative Musikrichtungen, die mit ungeheurer Kraft sogar ganze Gesellschaftssysteme verändern konnten.
Da ist gleich mehrfach Einspruch angezeigt. Stimmte es so, wie Du schriebst, dann hast Du z.B. Schubert in Deiner Aufzählung vergessen.
Das ist auch so eine romantische, typisch bürgerliche Verklärung, aus der Armut erwachse Kreativität. Armut hat immer Kreativität behindert. Je mehr ich mit dem Kampf um die nackte Existenz beschäftigt bin, desto weniger bin ich in der Lage, kreative, musische Kräfte zu entfalten. Auch wenn viel Leid und Elend künstlerisch verarbeitet wird - gerade Musik hat immer etwas mit der Kraft des Lebens zu tun. Ein extremes Beispiel: Das Lied, die Moorsoldaten. Im KZ komponiert und getextet - aber hört mal auf die Musik, da steckt eine Kraft drin, ein Lebenswille, der schier überwältigend ist.
Stichwort »Blues«. Wenn ich einen schwarzen Musiker sehe, der, kaum Zähne im Mund, von seinem Leben singt und Mundharmonika spielt und singt das er sich sogar manchmal selbst haßt - dann berührt mich das, ich finde das aber nicht unterhaltend.
Zum Stichwort »Gesellschaftliche Umwälzung«. Musik kann einzelne bewegen etwas zu ändern, mir ist aber noch keine Musik untergekommen, die wirklich gesellschaftlich verändert hätte. Der vielzitierte Rock und der Roll - ach je. Wenn die Jungs den ersten Scheck gesehen haben, war es vorbei mit der Veränderung - dann ging es nur noch um Teilhabe am kapitalistischen Kuchen.
»Fortschritt«. Du nennst ernsthaft Rap im Zusammenhang mit fortschrittlich. Das ist ja wohl die rückschrittlichste Musik, die dieser Planet je zu Gehör bekommen hat. Da wird ein Machismo und ein Frauenbild gepflegt, das man so auf keinem Pavianfelsen mehr findet - und von der menschenverachtenden Gewaltverherrlichung ganz zu schweigen.
Stehen wir also vor dem Dilemma:
entweder
geht es uns gut, dann können wir den Musikschulunterricht für unsere Kids bezahlen, wobei aber nicht wirklich Musik bei rauskommt
oder
es geht uns schlecht, und wir sind für den wirklichen Blues legitimiert.
Dieses Fazit hört sich, mit Verlaub, wie der Opa meines Freundes an, der auch immer lamentierte, daß man nur im Schützengraben den wahren Menschen kennenlernt.
Kinder haben eine große Freude daran, mit anderen Musik zu machen und wenn es »Alle meine Entchen« vom Blatt ist. Die sind da ideologisch nicht so verkrampft, wie es die meisten Erwachsenen sind. Kinder und Jugendliche haben (neben dem Handwerk lernen) viel Luft und Zeit sich auszuprobieren - vorausgesetzt, wir geben sie ihnen. Das ist unsere Verantwortung: Grundlagen vermitteln, denn nur die machen klar, wo kommt das alles her und wie funktioniert das, und die Luft und Raum zum Probieren.
Zum Musikmachen gehört nun einmal das Handwerk. Will ich Musik aus dem 14. Jahrhundert mit meinem Saxophon-Trio spielen, werde ich nicht drum herumkommen, mich für das Arrangement mit den Grundlagen zu beschäftigen (wie haben die gespielt damals und wie kommen eigentlich die Tempiwechsel zustande - auf dem Notenblatt stehen gar keine) und nicht zuletzt »vom Blatt spielen« zu üben.
Will ich Jazz machen und wunderschön improvisieren, hilft es sicherlich, mich mit der Harmonielehre des Jazz auseinanderzusetzen. Es sei denn, ich habe 20 Jahre Zeit (und die Möglichkeit) um von Jugend an durch die Orchester und Auftritte zu tingeln um mir die Grundlagen abzuschauen und zu hören.
Fazit: Wie immer - üben hilft, die Scheuklappen absetzen und Harmonielehre weder mystifizieren noch als Zahlenfuchserei schmähen. Sie ist eine wichtige Grundlage und nützliches Handwerkszeug. Auch wichtig: Noten nicht, wie ich neulich lesen mußte, als »Antikreativitätshieroglyphen« bezeichnen. So steht man sich nur herrlich selbst im Weg.
Beste Grüße aus MH
Klaus