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THEMA: harmonielehre - mystik oder zahlenfuchserei

Re: harmonielehre - mystik oder zahlenfuchserei 01 Aug 2008 14:18 #59977

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@49tmb
Nööö, hat man Dir als Kleinkind Bücher in die Hand gedrückt um das Reden zu lernen?? Mir nicht. Ich habe zugehört und nachgeplappert.
Mir ist auch nicht bekannt, daß einer von den Virtuosen des Jazz
a. irgend welche Bücher über Harmonielehre in größerem Umfang gelesen hätte ...

JEs

Nein. Natürlich haben wir alle die Grundzüge unserer Muttersprache durch hören und nachahmen gelernt. Doch wie sieht es mit einer Fremdsprache aus?

Ich sagte ja auch, dass der Erfolg auf diesem Weg sehr unterschiedlich sein kann.

Zurück zur Muttersprache. Was macht der mensch, der in einem sagen wir sprachlich "armen" Umfeld aufwächst. Lesen, hören, lernen (Mutter- und Fremdsprache)


Zu Deinem zweiten Teil:
Ich vergleich mich nicht mit den "Naturtalenten". Ich muss leider lernen und verstehen. Wenn ich verstanden habe, wie etwas funktioniert (wie ich es vielleicht auch gerade intuitiv gemacht habe) kann ich das doch viel lockerer "aus dem Bauch heraus" anwenden.

In Remscheid durfte ich das Intro zu einem Stück der Dozenten dort spielen (Impro nach vorgegebener Harmonie).
Nach dem zweiten mal meinte er:" Mach mal nicht soviel b9"
Gut, dass ich so"n bischen Theorie kann. (Ich hatte mir beim Spiel übrigens nicht überlegt: jetzt ne b9, nun mal ne 13 und jetzt runter zur flatted five und Quarten sind auch geil oder so)

Cheerio
Keep swinging!
I believe you should try to make music as beautiful as you can. It should not be done with ugliness.
There's so much hate in the world; you should counteract it with loveliness(Stan Ge
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Re: harmonielehre - mystik oder zahlenfuchserei 01 Aug 2008 18:44 #59992

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... und wenn man bedenkt, wieviele unglaublich gute Musiker von den Hochschulen jährlich "ausgeschissen" werden, so kann es doch zumindest nicht von Nachteil sein sich eingehend mit dem Thema zu befassen.
es mag ja durchaus auch andere Zugänge geben ...

gibt es doch sowieso bloß eine gültige Regel : Spiel keinen Scheiß !

schönen Gruß
Pulco
Zitat bp : and sometimes a good player is better for the audience....
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Re: harmonielehre - mystik oder zahlenfuchserei 02 Aug 2008 00:42 #60003

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Hallo,

als Oldie spät mit Jazz angefangen...habe ich im Unterricht mit meinem Lehrer häufiger Diskussionen über das, was hier angesprochen wird.

Da sagt er - mein Lehrer...

"Ohne Kenntnisse der ( auch musiktheoretischen) Grundlagen kommste nur mit "feeling" nicht mehr weiter.

Und dann sagt er wieder:

"Der gesamte Instrumentalunterricht läuft heute eigentlich vollkommen falsch! Man müsste viel mehr auf Hören und nicht notengebundenes Spielen setzen ...aber wenn ich das durchziehen würde, wäre der größte Teil meiner Schüler weg ...
...das macht kaum einer mit ... und wovon soll ich dann meinen Lebensunterhalt verdienen?"

Manchmal überrascht er ( mein Lehrer und Leiter der Jazzcombo) uns ( die in unserer Jazzcombo mitspielen ): ich spiel euch jetzt mal ´n Titel vor... und ihr spielt den nach.

Sofort heftiges Suchen, ob der Titel nicht irgendwo in den persönlichen Noten oder im breetliegenden Realbook zu finden ist... Noten, ´n Blatt muss her, wo steht was zu spielen ist.

Einfach so...sich auf die Ohren verlassen...haben wir irgendwie alle nicht gelernt oder wieder verlernt.

Komischerweise nur im Bereich Musik.

Wenn mein Auto seltsam ungewohnte Geräusche von sich gibt ... Radlager .... die Werkstatt sagt:0.k. ... stimmt.
Aus´m Keller kommen bisher nicht gekannte Geräusche ....Heizung....Umwälzpumpe ...war richtig... sagt der Heizungsmonteur am nächsten Tag.

Hören kann ich also und ihr auch.

Wieso ist da im Bereich Musik - dem wichtigsten Hörfeld - soviel schief gelaufen?

Sikorra (Jazz Harmonielehre) hat ´ne Menge dazu gesagt.

Ob Oldies den Dreh noch kriegen ...

Jüngere sollten alles lernen ...und immer wieder frei und ohne Noten spielen...

saxclamus




Vertrauen in die Lernförderung durch den Schlaf schafft Zuversicht auch beim Üben am Detail.(Rezept 39 aus "Einfach Üben" v. Gerhard Mantel

Nur wer nichts tut kann auch nichts falsch machen.
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Re: harmonielehre - mystik oder zahlenfuchserei 02 Aug 2008 02:00 #60006

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Hi,

auf die Ohren verlassen, ja. Nicht gelernt oder wieder vergessen? Wo wird es denn wirklich ernsthaft gelehrt? Lässt es sich überhaupt (mit fremder Hilfe) lernen?
Werden in den Musikschulen denn wirklich Musiker hervorgebracht oder nur gute Handwerker?

Liebe Grüße

Chris
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Re: harmonielehre - mystik oder zahlenfuchserei 02 Aug 2008 03:39 #60007

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Gute Frage, chrisdos.

Die Musik der frühen Völker, oder das, was ich davon noch hören durfte (der Gesang der Pymäen, traurigste Musik aus Chile, von Indianern, die Musik der Aborigines), ist tradiert und in einer Weise mit dem Leben verbunden, dass sie Sprache ist. Nicht gelehrt, sondern wie Sprache immer anwesend.

Die Musik, im Abendland herrschaftlich gepflegt, königlich bezahlt, wurde gelehrt.

Daneben gab es immer Gebrauchsmusik, Minnegesang, Operette und Schlager, oft eine Mischung aus Tradition und Lehre.

Die für mich interessanteren Musikformen entspringen der Armut. Zigeunermusik, Blues, Jazz, Soul, Gospel, Rock, Roll und Rap sind kreative Musikrichtungen, die mit ungeheurer Kraft sogar ganze Gesellschaftssysteme verändern konnten.


Stehen wir also vor dem Dilemma:

entweder

geht es uns gut, dann können wir den Musikschulunterricht für unsere Kids bezahlen, wobei aber nicht wirklich Musik bei rauskommt

oder

es geht uns schlecht, und wir sind für den wirklichen Blues legitimiert.

Das einzige, was mir bleibt, ist das im Kopf zu behalten und eigene Wege zu finden. Ein Trost: es sind viel schöne Musiken entstanden, indem die eigene Kultur auf fremde stieß und das ist eine Riesenchance für jeden, seinen Weg zu finden.
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Re: harmonielehre - mystik oder zahlenfuchserei 02 Aug 2008 08:22 #60009

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chrisdos schrieb:
Werden in den Musikschulen denn wirklich Musiker hervorgebracht oder nur gute Handwerker?
pue schrieb:
geht es uns gut, dann können wir den Musikschulunterricht für unsere Kids bezahlen, wobei aber nicht wirklich Musik bei rauskommt

ein guter Musiker muß meines Erachtens ein guter Handwerker sein.
außerdem, gutes Handwerk und Kunst liegen mindestens so dicht beieinander wie die weißen und schwarzen Tasten auf dem Piano.
um ein guter Handwerker zu sein reicht es nämlich nicht aus, sich ein x beliebiges Betätigungsfeld zu suchen und gut.
für gutes Handwerk braucht es Passion !
und wenn sich dazu ab und an noch Kreativität gesellt, dann kommt vielleicht Kunst dabei raus.
ich gehe davon aus, dass der Akt des künstlerischen Schaffens bei allen Künstlern temporär begrenzt ist.
wie heißt es doch so schön, von der Muse geküßt.
und ein Kuss dauert nunmal nicht ewig.
deshalb sind Künstler wahrscheinlich die meiste Zeit ihres Daseins bloß gute Handwerker.
und wenn man sich dann mit dem Begriff "Handwerker" erst einmal angefreundet hat, ist es auch nicht weiter schlimm.

und ja, großes Leid gebiert Schönheit.
aber auch dabei ist gutes Handwerk gefragt.

schönen Gruß
Pulco

Zitat bp : and sometimes a good player is better for the audience....
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Re: harmonielehre - mystik oder zahlenfuchserei 05 Aug 2008 00:04 #60151

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Da sind ja eine Menge bürgerlicher Klischees (und aus diesen geboren, die antibürgerlichen) versammelt:
…Die Musik der frühen Völker, oder das, was ich davon noch hören durfte (der Gesang der Pymäen, traurigste Musik aus Chile, von Indianern, die Musik der Aborigines), ist tradiert und in einer Weise mit dem Leben verbunden, dass sie Sprache ist. Nicht gelehrt, sondern wie Sprache immer anwesend.

Aha, der »Edle Wilde«, welcher stellvertretend für uns von der Zivilisation Verderbte, noch authentisch Musik macht. Er kann sich bloß mit niemanden austauschen und wenn er das doch versucht, wird er Mittel und Wege finden müssen um auf andere Arten zu kommunizieren und das wird dann aber auch die »authentische« Musik verändern. Musik lebt halt und entwickelt sich.
Und wer Ohren hätte zu hören, der hätte die Möglichkeit (gehabt) hier in jeder Ecke Europas authentisch von Mund zu Mund weitergegebenes zu erfahren. Aber man stierte ja lieber über den Ozean und verschloß seine Ohren mit Kopfhörern.
Die Musik, im Abendland herrschaftlich gepflegt, königlich bezahlt, wurde gelehrt.
Daneben gab es immer Gebrauchsmusik, Minnegesang, Operette und Schlager, oft eine Mischung aus Tradition und Lehre.

Wird immer wieder gern als Vorwurf genommen, stimmt aber natürlich so nicht. Zum einen ist die sog. abendländische Musik nicht im luftleeren Raum entstanden - sondern hat sich auch aus »traurigen« und hoffentlich auch fröhlichen Gesängen entwickelt immer in Kreuz- und Querverbindung mit dem Musikleben drumrum und zum anderen wurde sie nicht elitär gelehrt (Musikpraxis und Musiktheorie hatten über Jahrhunderte nicht viel miteinander zu tun) sondern ganz praktisch gelebt. Man ging als junger Mensch zu einem Musiker in die Lehre und lernte Musik und das Handwerk von Grund auf.
Und gerade weil sie ihr Handwerk so perfekt beherrschten, waren sie i.d.R. gute ja häufig geniale Improvisatoren. Wer z.B. Berichte liest, wie J.S. Bach neue Orgeln getestet hat, wird unweigerlich zu dem Schluß kommen, daß Glanznummern wie der »Delta City Blues« von Brecker zu Bach"schen Zeiten an der Tagesordnung waren.
Die für mich interessanteren Musikformen entspringen der Armut. Zigeunermusik, Blues, Jazz, Soul, Gospel, Rock, Roll und Rap sind kreative Musikrichtungen, die mit ungeheurer Kraft sogar ganze Gesellschaftssysteme verändern konnten.

Da ist gleich mehrfach Einspruch angezeigt. Stimmte es so, wie Du schriebst, dann hast Du z.B. Schubert in Deiner Aufzählung vergessen.
Das ist auch so eine romantische, typisch bürgerliche Verklärung, aus der Armut erwachse Kreativität. Armut hat immer Kreativität behindert. Je mehr ich mit dem Kampf um die nackte Existenz beschäftigt bin, desto weniger bin ich in der Lage, kreative, musische Kräfte zu entfalten. Auch wenn viel Leid und Elend künstlerisch verarbeitet wird - gerade Musik hat immer etwas mit der Kraft des Lebens zu tun. Ein extremes Beispiel: Das Lied, die Moorsoldaten. Im KZ komponiert und getextet - aber hört mal auf die Musik, da steckt eine Kraft drin, ein Lebenswille, der schier überwältigend ist.

Stichwort »Blues«. Wenn ich einen schwarzen Musiker sehe, der, kaum Zähne im Mund, von seinem Leben singt und Mundharmonika spielt und singt das er sich sogar manchmal selbst haßt - dann berührt mich das, ich finde das aber nicht unterhaltend.

Zum Stichwort »Gesellschaftliche Umwälzung«. Musik kann einzelne bewegen etwas zu ändern, mir ist aber noch keine Musik untergekommen, die wirklich gesellschaftlich verändert hätte. Der vielzitierte Rock und der Roll - ach je. Wenn die Jungs den ersten Scheck gesehen haben, war es vorbei mit der Veränderung - dann ging es nur noch um Teilhabe am kapitalistischen Kuchen.

»Fortschritt«. Du nennst ernsthaft Rap im Zusammenhang mit fortschrittlich. Das ist ja wohl die rückschrittlichste Musik, die dieser Planet je zu Gehör bekommen hat. Da wird ein Machismo und ein Frauenbild gepflegt, das man so auf keinem Pavianfelsen mehr findet - und von der menschenverachtenden Gewaltverherrlichung ganz zu schweigen.
Stehen wir also vor dem Dilemma:
entweder
geht es uns gut, dann können wir den Musikschulunterricht für unsere Kids bezahlen, wobei aber nicht wirklich Musik bei rauskommt
oder
es geht uns schlecht, und wir sind für den wirklichen Blues legitimiert.

Dieses Fazit hört sich, mit Verlaub, wie der Opa meines Freundes an, der auch immer lamentierte, daß man nur im Schützengraben den wahren Menschen kennenlernt.

Kinder haben eine große Freude daran, mit anderen Musik zu machen und wenn es »Alle meine Entchen« vom Blatt ist. Die sind da ideologisch nicht so verkrampft, wie es die meisten Erwachsenen sind. Kinder und Jugendliche haben (neben dem Handwerk lernen) viel Luft und Zeit sich auszuprobieren - vorausgesetzt, wir geben sie ihnen. Das ist unsere Verantwortung: Grundlagen vermitteln, denn nur die machen klar, wo kommt das alles her und wie funktioniert das, und die Luft und Raum zum Probieren.

Zum Musikmachen gehört nun einmal das Handwerk. Will ich Musik aus dem 14. Jahrhundert mit meinem Saxophon-Trio spielen, werde ich nicht drum herumkommen, mich für das Arrangement mit den Grundlagen zu beschäftigen (wie haben die gespielt damals und wie kommen eigentlich die Tempiwechsel zustande - auf dem Notenblatt stehen gar keine) und nicht zuletzt »vom Blatt spielen« zu üben.
Will ich Jazz machen und wunderschön improvisieren, hilft es sicherlich, mich mit der Harmonielehre des Jazz auseinanderzusetzen. Es sei denn, ich habe 20 Jahre Zeit (und die Möglichkeit) um von Jugend an durch die Orchester und Auftritte zu tingeln um mir die Grundlagen abzuschauen und zu hören.

Fazit: Wie immer - üben hilft, die Scheuklappen absetzen und Harmonielehre weder mystifizieren noch als Zahlenfuchserei schmähen. Sie ist eine wichtige Grundlage und nützliches Handwerkszeug. Auch wichtig: Noten nicht, wie ich neulich lesen mußte, als »Antikreativitätshieroglyphen« bezeichnen. So steht man sich nur herrlich selbst im Weg.


Beste Grüße aus MH
Klaus
Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber man muss es vorwärts leben. (S. Kierkegard)
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Re: harmonielehre - mystik oder zahlenfuchserei 05 Aug 2008 01:29 #60154

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Fein! Gerade überflogen. Ich darf morgen darauf antworten? Gute Nacht, muss schlafen.
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Re: harmonielehre - mystik oder zahlenfuchserei 05 Aug 2008 08:50 #60157

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Da sagt er - mein Lehrer...

"Ohne Kenntnisse der (auch musiktheoretischen) Grundlagen kommste nur mit "feeling" nicht mehr weiter.

Und dann sagt er wieder:

"Der gesamte Instrumentalunterricht läuft heute eigentlich vollkommen falsch! Man müsste viel mehr auf Hören und nicht notengebundenes Spielen setzen ...aber wenn ich das durchziehen würde, wäre der größte Teil meiner Schüler weg ...
...das macht kaum einer mit ... und wovon soll ich dann meinen Lebensunterhalt verdienen?"

Der Lehrer klingt für mich doch recht vernünftig. Und warum sollten ihm die Schüler weglaufen.
Also ich bin damals auch so, also nur über Zuhören zur Musik gekommen. Im Keller lag eine alte Klarinette rum mit ein paar Blättchen. Die habe ich mir geschnappt und versucht Lieder zu spielen. Das ging, weil ich damals jung und unbefangen genug war es einfach auszuprobieren.
Heute bin ich ein Uhu und die jugendliche Unbefangenheit ist weg. Peinlich also, sich mal beim Spielen mit einem falschen Ton zu blamieren. Also wird der Sikorra bemüht und versucht Intuition durch Verstand zu ersetzen. Nur so hört sich das dann auch an. Nix mehr mit Feeling, keine Überraschungen mehr, kein Gefühl, tot.

Darauf habe ich persönlich keinen Bock. Wenn ich also fertige Licks rauf und runterdüdeln wollte, auch perfekt weiß, wie ich die in die verschiedenen Tonarten transponiere und noch fertige Übergänge von einem zum anderen Lick kenne, dann hat das m.E. nichts mehr mit Jazz in seiner spontanen Form zu tun. Dann kann ich gleich ein Realbook nehmen und vom Blatt abspielen.

Und was das Handwerk angeht: ich würde Musik nicht als Handwerk sehen. Das Handwerk hört bei mir beim Bedienen des Instruments als Werkzeug zum Musizieren auf. Es gibt jede Menge gute Handwerker (und das ist das, was m.M. nach von den Hochschulen kommt), aber gute Künstler sind selten. Künstler= Leute, die mittels eines Instrumentes etwas ausdrücken können.

Und das definiert dann auch die "was bin ich heute gut Tage" für mich: wenn ich ein Stück selbst spiele und kriege Gänsehaut, weil ich es schaffe mit meinem Sax genau die Emotionen auszudrücken, die ich gerade fühle, dann.... und dafür brauche ich keine Harmonielehre, vielleicht Harmonien.

JEs
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Re: harmonielehre - mystik oder zahlenfuchserei 05 Aug 2008 15:53 #60173

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@Dexter

Vorweg: das Thema ist ein großes und nicht in einem Thread abzuhandeln. Meine Ausfürhrungen sind von daher verkürzt und in ihrer Knappheit zu kritisieren. Im Einzelfall sind immer Gegenbeispiele zu finden, das bringen Verallgemeinerungen und Abstraktionen mit sich. Sie fassen grobe Strukturen ins Auge und wollen das auch genau so.

Reg dich also nicht gleich auf, es ist nichts richtig von dem, was ich schreibe, alles ausgedacht und soll nur dazu dienen, die Sache in ein anderes Licht zu stellen.

Ich leuchte natürlich vom Standpunkt eines Bürgerlichen, was anderes bliebe mir.


Zur Sache, Schätzchen:

Der Fred befasst sich mit einem Gegensatz, den ich mal platt Kopfmusik kontra Bauchmusik nennen möchte. Ich versuche diese Trennung polarisierend darzustellen und zu schauen, auf welche Wurzeln, Traditionen die Positionen zurück gehen. Das mache ich am Beispiel dedes Jazz:


Kopfmusik

Die europäische Kunstmusik der letzten Jahrhunderte ist eine hierarchische Musikform und entspricht somit den politischen und gesellschaftlichen Prozessen.
Die Sonatenhauptsatzform hat ihr Pendant im Grundriss eines Schlosses.
Es gibt Spezialisten, die Musik komponieren, es gibt Spezialisten, die ein Orchester dirigiern, es gibt Spezialisten an speziellen Instrumenten.


Bauchmusik

Die afrikanische Volksmusik der vergangenen Jahrhunderte war eine lebensnahe Gruppenmusik. Auch sie spiegelte gesellschaftlichen Begebenheiten wieder.
Die Grundstruktur der afrikanischen Musik basiert auf der Aneinanderreihung einzelner Schläge und entspricht auch hier der Architektur, einer Ansammlung kleiner sich ähnelnder Hütten.
Die Instrumente sind einfach und können von allen bedient werden.


Diese beiden Kuluren treffen im Amerika der letzten zweihundert Jahre aufeinander. Was dabei hearuskommt, will ich anhand eines einzigen Taktes Swing erklären:

Wir nehmen uns ein Stückchen Negermusik:

patapatapatapatapatapatapatapatapata... "pata" sag ich mal, weil der linke Knüppel etwas anders als der rechte klingt. Ach so, is noch keine Musik. Musik wird es in dem Moment, wo Pausen hinzu kommen. Das schafft die Struktur:

patapatapa patapata ta tapatapatapatapatapa patapata ta tapata...

Aus dem gleichmäßigen Lauf entsteht hier Musik durch Wegnehmen. Quasi eine Negativmusik. Es wird nichts betont! Es kommt aus dem Gang, dem Fluß. Eine andere Interpretation sagt, die Schläge werden zusammengezogen; das klingt auf der Trommel genau so und sähe dann so aus:

patapatapaaapatapataaataaatapatapatapatapatapaaapatapataaataaatapata...


Dazu nun ein Stück Marschmusik:

Auch dem Gehen gewidmet, ist diese Musik im Rhythmus ganz anders strukturiert. Schon das Notenbild verrät es, nein, schon das Vorhandensein des Notenblattes! Es gibt einen Takt. Das ist die Einheit von der Länge einer ganzen Note. Der Takt ist unterteilt in 1/2, 1/4,1/8 usw.
Marschiert wird auf Viertel, so dass der entsprechende Rhythmus die folgende Struktur hat:

bumbumbumbum|bumbumbumbum...

Ach so, is noch keine Musik. Fehlt genau wie bei der Neechermusik die Struktur. Die abendländische Musik macht dies durch Betonungen, also Lautstärkeunterschiede. Das geht im Marsch so:

BUM bum Bum bum | BUM bum Bum bum...

Starke Betonung auf der 1. Viertel, schwache auf der 3. Viertel. Musik entsteht hier durch Unterteilen einer größeren Einheit und einer Hierarchie der Zählzeiten.


Das sind also unsere beiden Elemente, die im frühen 20. Jahrhundert in den USA aufeinander treffen. In der Fusion ergibt sich nun eine neue Qualität. Die Hierarchie der abendländischen Viertel wird beibehalten aber stark unterwandert, indem die 2. und 4. Viertel besonders hervorgehoben wird. Es entsteht der "back beat", geklatscht, auf der Snare gespielt oder nur gefühlt. Der Takt bleibt zwar die bestimmende Zeiteinheit aber die starke Fixierung auf die eins wird aufgeboben, wodurch ein Schweben oder Schwingen einsetzt.
Im Detail entsteht das Gleiche bei den Achteln: die Achtel auf den vollen Zählzeiten, in der Kunstmusik traditionell betont, wird durch den schwarzen Einfluß entmachtet. Es wird sogar die bislang unbedeuterende Achtel auf der "und" lauter gespielt als die auf der vollen Viertel. Die so entstehenden Achtelketten schwingen also nochmals in sich selbst.


Das alles macht den "Swing" aus und das sind seine Wurzeln. All das ist schematisch vereinfacht, eben abstrakt dargestellt und damit im Detail sehr ungenau.


Mit dieser klaren Trennung formuliere ich die örtlichen und historischen Wurzeln von Kopf- bzw. Bauchmusik anhand des Jazz. Die eine ist die Musik einer spezialisierten Hochkultur, die andere Wurzel ist die afrikanische Volksmusik.


Dieses grobe Schema hab ich im Kopf, Dexter, ohne bisher auch nur eine Wertung abgegeben zu haben. Wie schon oben angedeutet, ist für mich Musik immer auch politisch. Einmal bildet Musik, wie gesehen, die Gesellschaft bestens ab, zum zweiten verändert sie Gesellschaft. Die Entwicklung von der Versklavung der Afrikaner bis zum (ein wenig) schwarzen Präsidentenkandidaten in den USA wäre ohne die schwarze Musik nicht so schnell abgelaufen. Nicht der RocknRoll, nein, die gesamte schwarze Musik, die Field Songs, der Ragtime, ganz besonders der Blues und eben der Jazz haben mit dazu beigetragen, dass die Nigger als "gesellschaftsfähig" angesehen wurden. Die Übernahme der Jazz- und Bluesmusik durch Weiße war Anerkennung der afrikanischen Wurzeln der Schwarzen.


Nun zu meiner Wertung.

Ich stehe eher auf die tradierte Musik der Völker und habe Schwierigkeiten mit den Konstrukten der Hochkulturen, isso und das ganz persönlich. Ich sehe mir auch nicht so gerne Schlösser und andere Einschüchterungsarchitektur an. Das Monumentale überlasse ich gerne der Natur und genieße es dort. Ich bin Anarchist, trete für mehr direkte Demokratie ein und musiziere auch aus diesem Verständnis heraus: im Kollektiv, auf der Straße, gerne auf Veranstaltungen mit politischem oder sozialem Bezug. Da ich die politischen und sozialen Umstände ändern möchte, möchte ich natürlich auch dementsprechend musizieren.

Die Ausbildung meiner Kinder durch ausgebildete Musikpädagogen sehe ich von daher als sehr problematisch an. Früher war mir klar, an der Musikschule lernst du Klassik und zu Hause spielst du Jazz auf der Klarinette. Fein getrennt und übersichtlich. Meine Kids gehen nun zur gleichen Musikschule und lernen plötzlich Jazz spielen!? Und sie lernen plötzlich Jazztheorie von staatlich anerkannten Jazzmusikern!? Das ist so und ich lasse sie das auch lernen. Habe selbst so ziemlich alles durch gemacht, hab Klarinette studiert, war lange Zeit selbst Lehrer, aber Vorbehalte hege ich da trotz allem, wenn die Negermusik durch die europäische Theoriemühle gedreht wird.

Nun zu arm und reich: es ist nun einmal so, dass immer wieder kleinere, ärmere Bevölkerungsgruppen unterdrückt werden: Juden, Schwarze und Zigeuner... alle haben ihre Musik und für nicht wenige von ihnen war die Musik die Lebensgrundlage. Dein Zitat des Moorsoldatenliedes tutet doch ins selbe Horn, entstanden in der größten Armut, die Menschen haben können.

So, nu muss ich meinen bürgerlichen Rasen mähen und nu komms du.

Liebe Grüße, pü
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