Vorweg eine Bemerkung zu Kopf- und Bauch. Dieser künstlich konstruierte Gegensatz ist m.E. ein deutliches Anzeichen einer verkopften Denkweise.
Den gibt es so nämlich nicht. Jedes Musizieren erfolgt regelhaft. Ob diese nun aufgeschrieben oder von Mund zu Ohr weitergegeben wird, spielt keine Rolle.
Die vielfach als Zeugen genannten »Bauchmusiker« aus Afrika musizieren keineswegs mit diesem. Ihre Musik folgt klaren Regeln und ist z.T. fest ritualisiert. Wie überhaupt die in Gegenstellung zur »total hierarchischen und verkopften Musik der Hochkulturen« gebrachte tradierte Volksmusik äußert regelhaft gespielt wird. Deswegen klingt ein Flamenco immer nach Flamenco. Spielten die Mädels und Jungs tatsächlich immer aus dem Bauch und total spontan und ließen ihren Gefühlen freien Lauf, klänge es ja u.U. zwischendurch mal nach Tiroler Guggemusik - tut es aber nicht.
Und lieber Pue, so leid es mir tut, die »Negermusik« wurde ja bereits durch die »grausame Harmoniemühle« der europäischen Hochkultur gedreht und heißt jetzt Jazz. Und das ist doch eine positive Entwicklung für beide Seiten.
Du zitierst natürlich Marschmusik - hättest aber auch eine Gavotte nehmen können. Die Sonatenhauptsatzform ist auch nur ein sehr kleiner Ausschnitt der Musikgeschichte und die Spezialisierung Komposition - Dirigat - Musiker ist auch relativ jung.
Musikwissenschaft und -theorie lehrt nicht Musik (will sie auch nicht) sondern er- und vermittelt die Grundlagen des Musizierens. Es braucht dann immer noch Musikerinnen und Musiker um das alles zum Leben zu erwecken, daß war noch nie anders und wird es auch (hoffentlich) nicht werden.
Zum Handwerk des Musizierens gehören neben der Beherrschung des/der Instrumente/s, Kenntnisse in Musiktheorie und vom Blatt spielen zu können. Wie weit man das als einzelner so treibt, kommt auf den persönlichen Bedarf an.
Und vor allem gehören
EIGENE IDEEN dazu. Künstlerisch tätig sein heißt doch, u.a. meine Umwelt zu reflektieren. Umwelt ist da, wo ich lebe. D.h. doch fast zwangsläufig, daß sich meine Musik mit dem beschäftigt, was um mich herum passiert.
Wenn ich hier mal ein wenig überspitze, dann ist es doch eigentlich merkwürdig, Jazz oder Blues spielen zu wollen - da das mit unserem Umfeld doch nix zu tun hat. Ich mach doch damit keine Musik aus dem Bauch, sondern muß mit dem Kopf entscheiden, diesen Musikstil (und es ist einer, der regelhaft ist und somit auch gelehrt werden kann) zu spielen und muß mir von Platten Lebenserfahrungen anderer abhören, die mit meinem Leben rein gar nix zu tun haben. Also wenn
daß keine Kopfsache ist, dann weiß ich es nicht.

Speziell wir Deutschen haben da immer so einen gewissen Selbstekel. Ich versuche mir immer vorzustellen, das auf Jamaika sich einige Jugendliche die Haare kurz schneiden und dunkelblond färben, nur noch bayerische Tracht tragen, auf den I-Pod Moik & Consorten laden und sich dreiviertel ihres Hirns mit importierten Paulaner wegballern.
Schwer vorstellbar - umgekehrt aber vielfach Realität.
Wir trauen uns einfach nicht mehr, mal was eigenes auf die Beine zu stellen - eine eigene Ausdrucksform für das zu finden, wofür halt der eine oder andere Schwarze Blues spielt, ein Portugiese Fado, ein Spanier Flamenco, ein Kubaner Son etc.
Traut Euch was. Es kommt ja nicht darauf an, Blues zu spielen - vielmehr ist doch aus meiner Sicht wesentlich meine Gefühle auszudrücken. Das passiert zwar nicht im luftleeren Raum und soll es auch auf keinen Fall. Aber allein unsere Sprache bietet so viel Potential, mal was zu versuchen - unsere Musiktradition sowieso - und erst Recht die multikulturelle Realität. corcovado hat mit seinem Vergleich der Jazz- und der klassische Harmonielehre mit den Dialekten das Stichwort gegeben: Unsere Mundarten und Dialekte sind ein exzellenter Ansatzpunkt für Neues.
Noch was zum Stichwort »Hören«. Für mich erschließt sich Musik immer über das Hören. Manchmal, wenn ich etwas mir unbekanntes (sei es das Stück aber auch die Form) auf dem Notenpult liegen habe, kriege ich es nicht zu fassen - dann bin ich immer froh, wenn mein Freund und Mitspieler im Trio mir meine Stimmer vorspielt, dann macht es i.d.R. sehr schnell »Klick«.
@Jes
Wenn ich so was lese
»Wenn ich mir das Gejammere anhöre, welches meine türkischstämmigen Mitbürger so für Musik hören, dann kann ich da nix harmonisches dran finden«
wird mir immer ganz schlecht. Unterste Schublade.
Beste Grüße aus MH
Klaus